St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

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pichichi
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St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

Beitrag von pichichi »

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bevor ich mich in den Wiener Sommer verabschiede noch ein russischer Bericht:

Petersburg feierte 2003 den (erst) 300. Geburtstag, für den hier 1952 geborenen Präsidenten Putin wurde dafür eine Jacht gebaut, mit der er dann die internationale Flottenparade abnahm, die deutsche "Ruhrgas" finanzierte die Restaurierung des (noch immer verschwundenen) Bernsteinzimmers.

Mit einem Wort: die ehemalige Zarenmetropole, die während der Jahrzehnte des Kommunismus den Namen Leningrad trug, putzte sich für diese Feier groß heraus.

Sie liegt am finnischen Meerbusen auf 60° n. B. (deshalb die langen, weißen Nächte im Juni) und hatte zur Jahrtausendwende ca. 4,7 Millionen Einwohner. Bis zum Ende des Kommunismus waren es über fünf Millionen, die veränderte wirtschaftliche Situation und der Nachholbedarf an Konsum westlicher Art brachte einen eklatanten Geburtenrückgang, man wollte endlich all die Dinge kaufen, für die während der Planwirtschaft zwar Rubel, aber keine Waren da waren.

Heute kehrt sich die Situation um - man kann zwar vieles kaufen, das Preisniveau und damit die Lebenshaltungskosten sind jedoch extrem hoch, Lehrer verdienten damals als Staatsdiener nur 2000 Rubel, Facharbeiter zwar mehr als das Doppelte, aber die winzigen und überbelegten Sozialwohnungen sind heute nicht mehr gratis, Korruption und mafiöse "Biznessmeni" allgegenwärtig, sogar der ehemalige Bürgermeister Sobchak steckte eine Subvention der austriakischen Steuerzahler für die Gestaltung eines Österreich-Platzes von US$ 150.000 ungeniert in die eigene Tasche, sodass der Betrag ein zweites Mal aufgebracht werden musste.... 8-)

Am Flughafen Pulkovo im Südwesten der Stadt angekommen legt man neben dem Pass mit teurem (€ 70 inkl. Besorgungsgebühr) Visum ein Zollformular zum Abstempeln vor, in das minutiös alle Devisenbeträge einzutragen waren, daneben Dinge wie mitgebrachte Bücher (!), Mobiltelefone - die man am besten gar nicht einschaltete, eine Minute inkl. Roaminggebühr kostete damals fast € 7!, Medikamente, etc. An sich wird für die Ausreise ein gleiches, zweites Formular verlangt, das dokumentieren soll, wie viel Geld man ausgegeben hat, doch kein Zöllner hat sich dann darum geschert!

Schließlich wird man von den Vertretern der lokalen Agentur unseres Veranstalters empfangen, Irina, diplomierte Historikerin mit einem gigantischen Detailwissen, wie sich später herausstellen sollte, stellt sich als Fremdenführerin vor, Dimitri wird für die nächsten fünf Tage unseren Bus steuern, dessen Aufschrift "Svendborg" an Skandinavien erinnert, und in der Tat fahren in Petersburg eine Unzahl an Touristen-Bussen skandinavischer Herkunft herum, die offenbar in Stockholm und Helsinki nicht mehr durch den TÜV kamen.
Wir haben aber bald bei einer Fahrt mit einem Bus der Linie 7, der von unserem gigantischen 1200 Zimmer Kasten "Pribaltiskaya" ins Zentrum fährt, erkennen können, mit welchen überfüllten Rostlauben im Vergleich zu unserer "Luxuskarosse" die Einheimischen täglich unterwegs sein müssen. Die schnelle Metro hingegen, die in über 100 Metern Tiefe unbehindert von knietiefen Schlaglöchern dahinbrausen darf, konnte man mit einem Jeton für nur 5 Rubel benützen, die Stationen sind teilweise mit riesigen Kandelabern und aufwändiger Dekoration ausgestattet, liegen aber sehr weit auseinander.

Taxis kosteten von der Wassiliew-Insel, an dessen westlicher Spitze unser Hotel steht, $ 5 ins Zentrum, der Preis muss aber ausgehandelt werden, Alternativen sind Dolmus-artige Minibusse, die einen auf bestimmten Routen wieder für 5 Rubel mitnehmen, kyrillische Grundkenntnisse wegen der Fahrtroute sind aber essentiell!

Mit Irina und Dimitri ging es am zweiten Tag auf Stadtrundfahrt, wir sahen die Isaaks-Kathedrale, die "Blut"-Kirche mit ihren Zwiebeltürmchen, aber beide nur von außen, da die "Eintrittspreise" für Westler sich in absurden Regionen bewegten! An den nächsten Tagen wurden der Schlossplatz mit dem Winterpalast, die Eremitage mit dem Goldschatz der Skythen und Gemälden meiner Favoriten Gauguin und Van Gogh, die Peter-und-Paul Festung mit den Zarensarkophagen, eine Flussfahrt auf der Newa und ihren Hauptkanälen "Fontanka" und "Moika" und der Promi-Friedhof mit den Gräbern von Puschkin, Rimsky-Korsakow, Tschaikowsky, Dostojewsky u.a. absolviert.

Ausflüge zum Sommerpalast in Peterhof mit seinen fantastischen Fontänen und Wasserspielen und ein Besuch des Katharinenpalastes in Puschkin mit seinem einzigartigen "Bernsteinzimmer" komplettierten das umfangreiche Besichtigungsprogramm.
Eine weitere kulturelle Facette sind natürlich die Ballette im Marinsky-Theater, dessen Stammensemble Kirow gilt ja als beste Truppe der Welt, noch vor dem nicht weniger berühmten Bolschoi Ballett aus Moskau.

Man kann also St. Petersburg als eine Weltmetropole der Kunst definieren, die ihren Reichtum einerseits durch die Ansprüche der Zaren an Prachtbauten, die von zigtausenden Leibeigenen unter unmenschlichen Bedingungen errichtet wurden - wie Irina nicht vergaß zu erwähnen - andererseits durch ihre Dichter, Komponisten und Tänzer erworben hat.
Allein deswegen ist die Stadt schon eine Reise wert, trotz der einem ständig vor Augen geführten Probleme in Form von persönlicher Armut, vielen Arbeitlosen, zerbröckelnden Häusern, der stockenden Perestroika und der damit einhergehenden Bestrebungen, den reichen Westlern ständig mit allen möglichen Tricks das Geld aus der Tasche zu ziehen - eine unangenehme Tatsache, mit der man leben muss.

Bei allen Angeboten von Straßenhändlern ist ohnedies Vorsicht geboten, in Bus und Metro ist äußerste Aufmerksamkeit vor raffinierten Taschendieben angebracht, dass das Hotelpersonal mit illegalen Wechselgeschäften und Angeboten von verfälschtem Kaviar (€ 10 für eine Dose "Beluga"-Seehasenrogen!) für unbedarfte Touristen sich ein Zubrot verdienen muss, erinnert einen täglich daran, wie schwer sich das neue Russland tut, seine unselige Vergangenheit abzuschütteln ...
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Re: St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

Beitrag von nixwielos »

... und immer wieder: super, tausend Dank, es macht wirklich Spass, Dir zu folgen >:d<
Viele Grüße von Nicole und Stefan!
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Montemar
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Re: St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

Beitrag von Montemar »

Die Reiseberichte von Dir und die Deiner Gattin habe ich ja alle gelesen auf Ciao und einer ist lesenswerter und bildlicher als der andere und es macht auch Spass ein zweites mal dabeizusein. Eine Gabe so schreiben zu können. :* Bild

Gruß
Susann
„Was nützt es dem Menschen, wenn er Lesen und Schreiben gelernt hat, aber das Denken anderen überlässt?" Ernst R. Hauschka
pichichi
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Re: St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

Beitrag von pichichi »

vielen Dank für das Lob.....wie gesagt, die Erinnerungen bleiben so viel lebendiger
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Oliva B.
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Re: St. Petersburg: Zarenstadt, Leninstadt, Putinstadt

Beitrag von Oliva B. »

Hallo Herbert,

vielen Dank für deine ganz persönlichen Reiseeindrücke und fürs Miterleben!
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