[align=center]Teil I - Zufallsbesuch in der "Colonia de Santa Eulalia"[/align]
Kürzlich fuhren wir auf der Autovía A-31 von Villena in Richtung Sax, als auf der rechten Fahrbahnseite ein Hinweisschild mit dem Namen "Santa Eulalia" auftauchte. Diesen Name hatte ich in Verbindung mit dem geplanten Ortportrait von Sax gelesen, die vollständige Bezeichnung ließ mich schon damals neugierig werden, er lautet "Colonia de Santa Eulalia".
- Eine "Colonia" war im römischen Reich eine geplant angelegte Siedlung außerhalb Roms; "Kolonie, Ansiedlung" oder "Wohnviertel" ist auch die deutsche Übersetzung für "colonia".
Trotz dieser harmlosen Erklärung lief mir bei dem Wort "colonia" ein Gänseschauer über die Haut, denn ich erinnerte mich noch sehr genau an die
Colonia Dignidad in Chile, die "Kolonie der Würde", die 1961 von dem Deutschen
Paul Schäfer gegründet wurde und sich heute Villa Baviera, bayerisches Dorf, nennt.
Wir folgten dem Hinweisschild und befanden uns kurz darauf an einem unwirklichen Ort, die Zeit schien vor einem Jahrhundert stehengeblieben zu sein. Doch ich sah auch Fahrzeuge. Wer wohnt hier? Vielleicht doch eine Sekte?

- Zeile der Arbeiterhäuser an der Plaza
Wir fahren an einer menschenleeren quadratischen Plaza vorbei, die gegenüber von einer Reihe kleiner, farbig gestrichener Häusern begrenzt wird, rechterhand von ihnen halb verfallene, jedoch imposant Gebäude, linkerhand eine freistehende Kapelle und rechts von unserer Fahrbahnseite eine Geschäftszeile, an der ich so veraltete Bezeichnungen wie "Casinete" und "Tienda de la Colonia" an den Häusern erkenne. Ich komme mir vor wie in einer Filmkulisse und warte nur noch darauf, dass gleich die Schauspieler hervorkommen.

- Casinete

- Tienda de la Colonia
Wir folgen der "Hauptstraße", die angelegt ist wie eine Allee, und kommen auf der rechten Seite an einer Einfahrt vorbei, die auf einen großen Innenhof führt. Wir fahren hinein, obwohl das Gelände eher einen privaten Eindruck macht. Auf der rechten Seite befindet sich ein großes, gut erhaltene Gebäude. Die Beschriftung oberhalb des Eingangs zeichnet es als "Fábrica de Harinas" (Getreidemühle) aus, darunter steht - kaum noch zu entziffern, der Zusatz "El Carmen".

- Hauptstraße, rechts die Einfahrt zur Mühle

- Fábrica de harinas
- Die Getreidemühle "El Carmen" an der Plaza San Antonio ist ein großes, dreistöckiges Backsteingebäude mit weiß gekalkter Fassade und roten umrandeten Fenstern. Im Hauptgebäude wurde das Mehl gemahlen, in dem linken Nebengebäude der Weizen aufbewahrt und in dem rechten wohnte der Müller.
Rings um den quadratischen Platz gruppieren sich genauso wie auf der anderen Plaza Reihenhäuser, offenbar bescheidene Arbeiterunterkünfte, und verschiedene inzwischen geschlossen Geschäfte und Lagerräume (Almacen) entnehmen kann.

- Eingang zur Almazara (Ölmühle)

- Schild über dem Haus des Capataz (Vorarbeiter)
- Keramikbuchstaben oder Emailleschilder über den Eingängen der wichtigsten Gebäude oder geben über deren Verwendung Auskunft.
Ein paar Autos stehen verlassen auf dem Platz, sie wirken seltsam modern inmitten dieser unwirklichen Szene. Aus einem Haus kommt ein alter, winterlich gekleideter Mann und grüßt uns Voyeure freundlich und geht weiter. Was macht er hier?
Wir fühlen uns trotzdem ein wenig wie Eindringlinge und verlassen den Innenhof. Schräg gegenüber fällt uns ein altes, halbverfallenem Gebäude auf, über dessen Portal "Teatro Cervantes" steht. In diesem kleinen Ort gab es früher ein Theater? Meine Neugier steigt. Wir parken unser Auto und gehen die Straße zurück.

- Teatro Cercantes
Gegenüber von der Einfahrt zur Mühle, in der Nachbarschaft des Theater fällt mir ein hoher Turm auf. Direkt daneben entdecke ich ein Herrenhaus mit geschlossenen Mallorquinas vor den Fenstern. Auch dieses prunkvolle Gebäude ist verlassen. Gegenüber befindet sich eine Straße mit niedrigen Reihenhäusern, davor eine Handvoll Autos und Mischmaschinen, die vermuten lassen, dass es wider Erwarten noch weitere Bewohner gibt, die Häuser werden offenbar renoviert.

- Herrenhaus

- Balkonfenster mit Mallorquinas

- Arbeiterhäuser

- Plaza de Santa Eulalia
Das Dorf ist klein und übersichtlich. wir kehren zurück zum Eingangsplatz (Plaza de Santa Eulalia) und treffen dort auf den Mann, der uns bereits an der Getreidemühle begegnet ist. Ich spreche ihn an und bitte ihn uns zu erklären, wo wir hier gelandet bin. Ich merke gleich, dass ich bei ihm offene Türen einrenne. Er beginnt zu erzählen. Dabei übersteigen wir gemeinsam eine Absperrung, dahinter befindet sich die "Fábrica de Alcoholes La Union", wie aus der Beschriftung über dem Eingang hervorgeht.

- Brennerei und Bodega, davor die dürftigen Absperrungen

- Plaza de Santa Eulalia: Palacio, Despacho, Parador, rechts davon die Brennerei
"Sehen Sie da oben den hohen Kamin", fragt mich mein Gesprächspartner, "und unten wurde der Cognac gebrannt."
- Die Brennerei "La Unión" war in einem hohen Gebäude untergebracht, daneben die Kellerei mit einem charakteristischen quadratischen Kamin, dort wurde bis 1936 der Brandy "Santa Eulalia" gebrannt, als sich die Kolonie bereits im Niedergang befand.

- Fábrica de Alcoholes "La Union"
Daneben liegt der "Parador", das Gästehaus der Colonia. Ich werfe einen Blick durch das Schlüsselloch und kann in den Innenhof sehen. "Rechts unter den Dächern wurden früher die Kutschen geparkt", erklärt uns unser Gesprächspartner. Direkt im Anschluss befanden sich die Amtsräume (Despacho) mit einem Untergeschoss aus Backsteinen, dessen Rundbögen nachträglich zugemauert würden.

- Blick durchs Schlüsselloch

- Dahinter: eingestürzte Wände im Innenhof

- Despacho
- Überall besteht Einsturzgefahr. An dieser Stelle sind vor zwei Jahren Gebäudeteile auf die Straße gestürzt. Die Zeitung berichtete darüber. Statt die Gebäudeteile zu stützen, wurde das Gelände nur mangelhaft mit einer einfachen Plastikabsperrung gesichert.
Der Placio der Condes, den ich eben schon von der anderen Seite besichtigt hatte, teilt sich eine Außenwand mit dem Despacho, er ist genauso in Reihe gebaut wie die anderen Häuser des Dorfes. Neben der Eingangstür befindet sich der Briefkastenschlitz, darüber ein großer Löwenkopf.

- Palacio (Plaza)

- Briefkasten

- Giebel des Palacios (Plaza-Seite)
Wir gehen vorsichtig bis zur Ecke des einsturzgefährdeten Gebäudes, wo wir uns an einem Zaun entlangdrücken, um von dort einen Blick auf die Gartenseite des Placios zu werden. Denn die soll ich mir unbedingt ansehen. Über den Eingang schützt immer noch ein Baldachin vor Regen, doch Besucher gab es hier schon lange nicht mehr.

- Palacio, Gartenseite
- Mit dem Bau des gräflichen "Palastes" (in unserem Sinne eher ein Herrenhaus) wurde 1898 begonnen, ein Stilmix zwischen Modernismus und industrieller Architektur dieser Jahre. An der Hauptfassade über dem Eingang befindet sich ein halbkreisförmiges Relief, eine Art Tympanon. Es handelt sich um Allegorien auf die Landwirtschaft und die Industrie, in der Mitte ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln. Der Palast verfügt über 12 Zimmer, in deren Mitte sich der Innenhof befindet, der Salon, das Herrenzimmer, eine Bibliothek, umgeben von einem Garten und Skulpturen im klassischen Stil.

- Allegorie
Wir gehen zurück auf den Hauptplatz des Dorfes, rechts wieder die Arbeiterhäuser, über einem Haus davon hängt ein Schild, darauf steht "Vorarbeiter".
Gegenüber des Palastes befindet sich die Kapelle.

- Ermita
- Die ursprüngliche Ermita stammt aus dem Jahr 1609 und wurde 1623 und 1782 renoviert. Als sie jedoch Ende des 19 Jahrhunderts zu zerfallen drohte, beauftragte Antonio de Padúa den Künstler Francisco Gran aus dem benachbarten Villena, eine neue Kapelle zu bauen, deren Bau am 24. Februar 1891 beendet wurde.
Mein Begleiter will mir unbedingt noch das Prunkstück des Ortes zeigen - das Theater, das ich gleich am Anfang entdeckt hatte. Er zieht mich zu dem halbrunden Fenster vor dem Eingang. Das hatte ich schon vorher fotografiert, aber nicht hindurch geschauft. "Schauen Sie hinein", rät er mir, "dann sehen Sie die Zuschauerränge und Wandmalereien. Damals sind hier sehr berühmte Sänger aufgetreten."

- Teatro Cervantes

- Ein Blick durchs Fenster

- zeigt

- die Loge

- und Fresken an den Wänden
- Das Cervantes-Theater in italienischer Bauweise hat einen quadratischen Grundriss, die Ränge für die Zuschauer wie Parkett und Loge. Immer noch erhalten sind die Fresken, die bekannte Persönlichkeit der damaligen Zeit zeigen, Ansichten der Kolonie.
Er verrät uns noch, dass er in der Colonia aufgewachsen sei, sie aber Anfang der 1950er Jahre verlassen hätte, so wie alle anderen auch, um in Sax Geld zu verdienen. Heute kommt der alte Mann nur noch an den Wochenenden zurück in den Ort, so wie einige andere auch, um ein paar Stunden hier zu verbringen.
- Einige Arbeiterhäuser wurden inzwischen renoviert und dienen heute als Wochenend- oder Ferienhäuser.
Teil II - Geschichte: Beginn und Verfall